Gedichtwerkstatt: Wir schreiben ein Sonettchen
Die Begegnung mit Gedichten ermöglicht Kindern, einen freudvollen Zugang zur Poesie zu finden und ihre sprachlichen Fähigkeiten zu erweitern. Dabei können sie vielfältige literarische Ausdrucksmöglichkeiten kennenlernen und intuitiv erproben. Zudem stärkt das Schreiben von Gedichten das Selbstbewusstsein der Kinder, indem sie stolz auf die Präsentation ihrer ästhetisch gestalteten Werke sind, diese vortragen und dafür wertvolle Rückmeldungen erhalten. Das gemeinsame Überarbeiten und gegenseitige Vortragen fördern die Fähigkeit zur Zusammenarbeit, wodurch die Freude am Lernen unterstützt wird.
Neben einfacheren Gedichtformen (z.B. Elfchen, Akrostichon, Haiku, Rondell, Stufengedicht), welchen wir im Deutschunterricht der Grundschule begegnen, können im Laufe der Schulzeit komplexere Gedichte hinzukommen. Gedichte lassen sich nach dem Thema (z.B. Jahreszeiten, Liebe, …) oder dem Aufbau unterscheiden:
- Freie Gedichte (ohne feste Vorgaben zu Reim, Vers, Strophe, Metrum oder Thema)
- Gedichte mit Bauplan, z.B. Ode, Ballade, Sonett
Während in der Grundschule der Fokus auf dem Kennenlernen und Schreiben erster eigener poetischer Texte liegt, werden Gedichte in den höheren Klassen zunehmend analysiert und in einen gesellschaftlichen und/oder historischen Kontext gesetzt.
siehe auch
Was ist ein Sonettchen?
Das Sonettchen ist eine von uns neu entwickelte Gedichtform, die vom klassischen Sonett inspiriert wurde. Wir haben diese vereinfachte Form mit einem leicht zu verstehenden Bauplan konzipiert, um Kindern einen ersten Zugang zu komplexeren Gedichtformen zu ermöglichen.
Ein klassisches Sonett besteht aus vierzehn Zeilen und ist in vier Strophen unterteilt. Die ersten beiden Strophen haben jeweils vier Zeilen, die letzten beiden Strophen jeweils drei Zeilen.
Im Vergleich dazu besteht das Sonettchen aus insgesamt zehn Zeilen, welche in zwei Strophen zu je vier Zeilen sowie zwei abschließende Zeilen gegliedert sind.
Während ein klassisches Sonett anspruchsvolle und abstrakte Themen in dichter Sprache behandelt, öffnet sich das Sonettchen den Interessen der Kinder und greift altersangemessene Inhalte auf.
Das Sonettchen nutzt einfache Metaphern sowie Synonyme, um den Kindern einen Zugang zu poetisch-lyrischer Sprache zu ermöglichen und Freude am Dichten zu wecken. Auf diese Weise wird das Verständnis für Gedichte durch die Vielfalt der Interpretationsmöglichkeiten bei der Auseinandersetzung mit Mehrdeutigkeit altersgerecht und motivierend angebahnt. Dabei müssen nicht die strengen Strukturvorgaben des klassischen Sonetts berücksichtigt werden und die Kinder finden einen leichteren Zugang zur Einhaltung des Bauplans.
Für die Kinder ist das Sonettchen besonders ansprechend, da schon der Begriff „Sonettchen“ etwas Nettes und Freundliches suggeriert, wodurch sich mit dieser Gedichtform positive und schöne Erfahrungen verbinden lassen.
Erarbeitung
Die Erarbeitung eines Sonettchens kann im Unterricht in folgenden Schritten erfolgen:
- Gegenstände sammeln und benennen: Die Kinder wählen vier Gegenstände aus ihrer Umgebung oder Fantasie aus und schreiben deren Namen auf.
- Gegenstände beschreiben: Die Kinder beschreiben jeden der ausgewählten Gegenstände kurz. Dabei wird der Gebrauch von Adjektiven und die Fähigkeit zu genauen Beobachtungen gefördert.
- Synonyme finden: Für jeden Gegenstand wird ein passendes Synonym gesucht.
- Gegenstände erklären: Die Kinder überlegen, welche Bedeutung die Gegenstände haben könnten oder welche Gefühle sie damit verbinden. Das fördert das abstrakte Denken und die sprachliche Ausdrucksfähigkeit.
- Abschließende Zeilen formulieren: Zum Schluss schreiben die Kinder zwei abschließende Zeilen, die das Gedicht abrunden und einen persönlichen Abschluss darstellen.
Bauplan des Sonettchens
Ein Sonettchen besteht aus zwei Strophen mit je vier Zeilen und zwei abschließenden Zeilen. Die erste Strophe beschreibt vier ausgewählte Gegenstände, die zweite Strophe erklärt die Bedeutung oder Gefühle, die mit diesen Gegenständen verbunden sind. Die abschließenden beiden Zeilen fassen das Gedicht zusammen oder stellen eine persönliche Reflexion dar.
Sonettchen: Beispiel 1
Meine Uhr zeigt mir die Zeit.
Das Haarband passt zum neuen Kleid.
Der Bleistift ist ganz spitz.
Ins Heft schreib ich einen Witz.
Ein Zeitmesser tickt richtig.
Der Haargummi ist wichtig.
Den Stift brauche ich zum Schreiben.
Das Papier muss bleiben.
Die Zeit bleibt nie stehen,
Und ich muss jetzt gehen.
(J., 4. Klasse)
Sonettchen: Beispiel 2
Ein kleines Herz aus rotem Papier.
Ein Blatt, das der Herbst im Sommer verliert.
Ein Fahrschein in die Stadt hinein.
Ein Federchen so leicht und fein.
Die Liebe leicht wie Kinderspiel.
Das Laub, das fällt ganz ohne Ziel.
Das Ticket, das die Wege weist.
Die Daune ihre Freiheit preist.
Die Feder träumt vom Flügelschlag.
Und ich, ich träume in den Tag.
(A., 4. Klasse)
Darstellung des Aufbaus eines Sonettchens
Aufgabenstellung für das Verfassen eines Sonettchens
Wähle vier Gegenstände
Suche Dir vier verschiedene Gegenstände, die Du beschreiben möchtest.
Beschreibe die Gegenstände
Schreibe zu jedem Gegenstand einen kurzen Satz, der beschreibt, was er ist oder wie er aussieht. Die Sätze sollen sich reimen.
Erkläre die Gegenstände
Überlege dir für jeden Gegenstand ein anderes Wort, das das Gleiche oder etwas Ähnliches bedeutet. Schreibe mit diesen Wörtern je einen Satz, der erklärt, was dieser Gegenstand für Dich bedeutet. Auch diese Sätze sollen sich reimen.
Schreibe die letzten beiden Zeilen
Notiere einen abschließenden Gedanken zu deinem Gedicht. Diese Zeilen sollen sich ebenfalls reimen.
Titel, Überarbeitung und Präsentation
Finde einen passenden Titel. Überarbeite Dein Gedicht allein oder mit anderen in einer Schreibkonferenz, bis Du mit Deinem Gedicht zufrieden bist. Gestalte Dein Gedicht passend. Übe deinen Gedichtvortrag und präsentiere das Sonettchen deiner Klasse.
Warum Gedichte?
Gründe für den Einsatz von Gedichten im Unterricht der Grundschule
- Schulung der phonologischen Bewusstheit: Das Sprechen und Erkennen von Reimen fördert die phonologische Bewusstheit.
- Sprachförderung (Sprachbewusstsein und Sprachsensibilität): Gedichte regen Kinder dazu an, über Sprache nachzudenken und ihren Wortschatz zu erweitern. Die poetisch-lyrische Sprache fördert das bewusste Auswählen und Anordnen von Wörtern.
- Förderung der Kreativität: Gedichte sind eine kreative Ausdrucksform, die die Fantasie der Kinder anregt. Sie bieten einen Impuls für kreatives Schreiben.
- Motivationssteigerung: Das Verfassen von Gedichten ist ein motivierender Lernanlass. Kinder sind oft begeistert von der Möglichkeit, eigene Verse zu kreieren.
- Zugang zu Literatur: Durch das Lesen und Schreiben von Gedichten lernen die Kinder verschiedene poetische Texte kennen. Sie entwickeln ein Verständnis für Reime, Rhythmen und die Struktur von Gedichten.
- Integration in den Unterricht: Gedichte lassen sich ideal in den integrativen Deutschunterricht einbinden. Sie eröffnen außerdem Möglichkeiten für fachübergreifende und projektorientierte Aktivitäten.
- Förderung individueller Stärken: Beim Schreiben von Gedichten können die individuellen Interessen sowie der aktuelle Entwicklungsstand der Kinder berücksichtigt werden. Dies ermöglicht ein differenziertes und auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten der einzelnen Kinder abgestimmtes Lernen.
- Förderung sozialer Kompetenzen: Das gemeinsame Arbeiten an Gedichten, gegenseitiges Vorlesen und Feedbackgeben stärken die sozialen Kompetenzen der Kinder. Sie lernen, konstruktiv miteinander zu arbeiten und die Arbeiten ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler wertzuschätzen.
Literarische Bildung und Bildungsstandards
Die Verbindung literarischer Bildung mit den Bildungsstandards ist herausfordernd, da ästhetische Prozesse wie beim Verfassen von Gedichten nur schwer messbar, also anhand von beobachtbaren Kriterien überprüfbar, sind. Formate wie das Sonettchen (und andere Gedichtformen) bieten jedoch Ansätze, um kreative Freiräume mit der Förderung sprachlicher Kompetenzen zu verbinden. Damit zeigen wir eine Möglichkeit auf, wie literarische Bildung und Kompetenzentwicklung konstruktiv zusammenwirken können, auch wenn die Standardisierung ästhetischer Prozesse im Kontext der Kompetenztorientierung in der Fachdidaktik kontrovers diskutiert wird.
Bezüge in den Bildungsstandards
In den Bildungsstandards für das Fach Deutsch im Primarbereich von 2022* finden sich Bezüge zum Verfassen poetischer Texte in domänenspezifischen und prozessbezogenen Kompetenzbereichen wieder:
Schreiben
Die Schülerinnen und Schüler schreiben, um zu kommunizieren, um Informationen festzuhalten, um Gedanken und Gefühle auszudrücken und um kreativ und gestaltend mit Sprache umzugehen. Ihren Schreibprozess gestalten sie sowohl angeleitet als auch unterstützt durch kooperative Schreibumgebungen. Im Schreibprozess berücksichtigen sie bereits grundlegende Anforderungen an Texte im Hinblick auf allgemeine Texteigenschaften, auf Adressaten, Textfunktion, Schreibanlass und Textsorte.
Texte verfassen
Die Schülerinnen und Schüler planen und strukturieren, formulieren und überarbeiten Texte und beachten dabei allgemeine Textmerkmale, Adressaten, den Schreibanlass, Schreibfunktion und Textsorte sowie verschiedene Formen des Schreibens, den Einsatz digitaler Schreibwerkzeuge und die Anwendung von Schreibstrategien.
Texte planen und strukturieren
Die Schülerinnen und Schüler
- sammeln erste sprachliche Mittel: Wörter und Wortfelder
Texte formulieren
Die Schülerinnen und Schüler
- realisieren mit ausgewählten Textsorten grundlegende kommunikative und personale Schreibfunktionen
- Ausdrücken: sich selbst, Erlebtes und Erdachtes, Gedanken und Gefühle (auch auf Basis von Schreibimpulsen wie Texten, Bildern oder Musik), z.B. in den Textsorten […] Gedicht
- Darstellen: Beschreiben, Erklären
- nutzen unterschiedliche Schreibformen: […] kreative (z.B. Schreiben zu Bildern)
Texte überarbeiten
Die Schülerinnen und Schüler können auf Textteile bezogene Hinweise (bspw. von der Lehrkraft oder von Mitschülerinnen und Mitschülern) einarbeiten und Überarbeitungsstrategien anwenden.
Die Schülerinnen und Schüler
- überprüfen auf der Basis von Rückmeldungen (z. B. Lehrkraft, Mitschülerinnen und Mitschüler) Texte nach ausgewählten Kriterien und überarbeiten diese (auch kooperativ, z. B. Textlupe, Schreibkonferenz) im Hinblick auf:
- Aufbau, Inhalt und Formulierungen
- treffende Wortwahl, Rechtschreibung, Gestaltung
- Kohärenz (bei kürzeren, einfach aufgebauten Texten) und Verständlichkeit
- bekannte Adressaten
- holen Text-Feedback ein und formulieren selbst auch Feedback zu Texten anderer
Sich mit Texten und anderen Medien auseinandersetzen
Beim Hören und Lesen literarischer Texte beschäftigen sich die Schüler und Schülerinnen mit wichtigen, sie bewegenden Fragen […].
Texte präsentieren
Die Schülerinnen und Schüler präsentieren Texte eigener Wahl oder vorgegebene Texte und nutzen verschiedene Präsentationsformen.
Die Schülerinnen und Schüler
- lesen selbstgewählte literarische Texte nach Vorbereitung sinngestaltend vor
- tragen kurze literarische Texte auswendig vor
- nutzen Vorlesetechniken und Techniken des Auswendiglernens
Sprache und Sprachgebrauch untersuchen
Über die Arbeit an Wörtern und Sätzen, Texten und Gesprächen entwickeln die Schülerinnen und Schüler ihre Sprachbewusstheit weiter und gewinnen Einsichten in Aufbau und Funktion von Sprache. Sie entwickeln Freude am experimentellen/kreativen Umgang mit Sprache und an der Aufdeckung sprachsystematischer Zusammenhänge.
Sprachliche Strukturen untersuchen und nutzen
Wörter und Sätze
Die Schülerinnen und Schüler
- gewinnen Einsichten in sprachliche Strukturen und Gestaltungsmöglichkeiten durch den experimentellen und kreativen Umgang mit Sprache.
Texte und Gespräche
Die Schülerinnen und Schüler
- untersuchen an ausgewählten Beispielen die sprachliche Gestaltung von Texten (z. B. Reim, Wiederholungen, sprachliche Bilder, Vergleich).
Rechtschreibung
Die Schülerinnen und Schüler
- untersuchen Schreibweisen von Wörtern, Wortgruppen und Sätzen,
- tauschen sich über die Schreibung von Wörtern, Wortgruppen und Sätzen aus (z. B. Rechtschreibgespräch).
*zusammengestellt nach:. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 15.10.2004, i.d.F. vom 23.06.2022: Bildungsstandards für das Fach Deutsch Primarbereich.
Judith Köhler & Andreas Grajek
Letzte Aktualisierung: 24. Dezember 2024