Schulimpulse

Gestaltung mathematischer Lernumgebungen durch eine lernwirksame Aufgabenkultur


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Bildungsstandards und Differenzierung

Die Bildungsstandards für das Fach Mathematik im Primarbereich, welche 2004 von der Kultusministerkonferenz eingeführt wurden, haben neben der Kompetenzorientierung auch eine inhaltsbezogene Differenzierung in den Fokus gerückt.

Es werden hier so genannte „große Aufgaben“ vorgestellt, die der Leistungsheterogenität von Grundschülern dadurch Rechnung tragen, dass sie im gleichen inhaltlichen Kontext ein breites Spektrum an unterschiedlichen Anforderungen und Schwierigkeiten abdecken. Dadurch können die Aufgabenbeispiele zugleich als Muster für einen differenzierenden Unterricht fungieren, in dem alle Kinder am gleichen Inhalt arbeiten, aber nicht unbedingt dieselben Aufgaben lösen.

KMK: Bildungsstandards im Fach Mathematik für den Primarbereich. 2004. S. 13

Differenzierung stellt dabei ein Instrumentarium dar, welches den Lernenden vielfältige Lernzugänge eröffnet:

  • „quantitative Differenzierung nach Umfang
  • qualitative Differenzierung nach Schwierigkeitsgrad
  • methodische Differenzierung durch unterschiedliche Artikulation, Sozialform, Lehrverfahren und -formen
  • mediale Differenzierung durch verschiedene Arbeitsmittel, Darstellungsformen, Materialien und Medien
  • soziale Differenzierung durch die Bildung der Gruppen nach Homogenität bzw. Heterogenität, nach Selbsteinschätzung
  • unterstützte Differenzierung nach Art und Ausmaß der Interaktion zwischen Lehrer-Schüler, Schüler-Schüler im Hinblick auf Unterstützung oder Korrektur
  • sukzessive Differenzierung je nach Beginn des differenzierten Arbeitens in jeweils unterschiedlichen Phasen der Unterrichtseinheit“ [1]

Der sächsische Lehrplan unterstreicht diese Ansprüche in einigen Lehrplanaussagen zur Heterogenität der Schülerinnen und Schüler:

  • „Das breite Leistungsspektrum der Grundschüler bedingt einen differenzierenden und individualisierenden Unterricht.
  • Im Vordergrund steht die innere Differenzierung, die den individuellen Lernvoraussetzungen und Leistungsständen sowie den unterschiedlichen Zugangsweisen zum Lernstoff und dem unterschiedlichen Lerntempo gerecht wird.
  • Das erfordert vom Lehrer diagnostische Fähigkeiten und eine sorgfältige Analyse.
  • Die darauf aufbauenden Lernschritte sollen weniger am Defizit als vielmehr am individuellen Lernfortschritt orientiert sein.“ [2]
  • „Der Lehrer trifft die Auswahl der Aufgaben je nach mathematischem Schwerpunkt und ordnet sie im Unterricht so ein, dass ein aktiver Prozess jedes Lernenden bei der Aufgabenbearbeitung bis hin zur Rückbesinnung sowohl auf den Weg als auch auf das Resultat gesichert ist.“ [3]

Um Aufgaben der Vielfalt der Schülerinnen und Schüler entsprechend zu konzipieren, lohnt es sich, den Blick auf Möglichkeiten zur Gestaltung von Aufgaben zu richten sowie Mittel der Zugänglichkeitssteuerung und Aufgabenvariation als Bestandteile einer lernwirksamen Aufgabenkuktur zu betrachten.

Gestaltung von Aufgaben: Anforderungsbereich I, II und III

Ergiebige Aufgaben (vgl. Bildungsstandards → „große Aufgaben“, auch: substanzielle Übungsformate oder mathematische Lernumgebungen) eignen sich besonders dafür, dem Anspruch an individuelles Lernen im Kontext eines gemeinsamen Lerngegenstands gerecht zu werden. Zahlenmauern, Malpyramiden, Rechenhäuser, Zahlenketten oder Entdeckerpäckchen sind Highlights einer entsprechenden Aufgabenkultur.

Kernmerkmal der ergiebigen Aufgaben ist die große Flexibilität, mit der sie an die individuellen Lernvoraussetzungen einer Klasse angepasst werden können. Die jeweilige Bearbeitungstiefe der Lernenden kann durch Impulse aus Operatoren gesteuert werden:

  • Löse.
  • Setze fort.
  • Erkläre: Wie bist du vorgegangen?
  • Beschreibe: Was fällt dir auf?
  • Begründe: Warum ist das so?
  • Erfinde auch solche Aufgaben.

Diese Operatoren sind aus den Bildungsstandards für das Fach Mathematik abgeleitet, welche drei Anforderungsbereiche für Aufgaben definieren [4]:

  • Anforderungsbereich „Reproduzieren“ (AB I): Wiedergabe von Grundwissen, Ausführen von Routinetätigkeiten und direkte Anwendung von grundlegenden Begriffen und Verfahren.
  • Anforderungsbereich „Zusammenhänge herstellen“ (AB II): Erkennen mathematischer Zusammenhänge und Verknüpfen von Kenntnissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten bei der Bearbeitung mathematischer Aufgabenstellungen.
  • Anforderungsbereich „Verallgemeinern und Reflektieren“ (AB III): Übertragen von Erkenntnissen auf unbekannte Fragestellungen sowie Entwickeln und Reflektieren von Strategien, Begründungen und Folgerungen.

Die folgende Darstellung zeigt am Beispiel der Zahlenmauer eine Möglichkeit zur Gestaltung der Komplexität des Übungsformates in den Anforderungsbereichen I, II und III:

Anforderungsbereiche I, II und III am Beispiel des Übungsformats „Zahlenmauer“

Hinweis zur Zuordnung von Aufgaben zu einem Anforderungsbereich:

„Wenn die Beispielaufgaben als Repräsentanten eines bestimmten Anforderungsbereichs definiert und entsprechend gekennzeichnet sind, so handelt es sich hierbei um eine vorläufige, empirisch nicht validierte Zuordnung, die nicht immer eindeutig zu treffen ist.“ (KMK: Bildungsstandards im Fach Mathematik für den Primarbereich. 2004. S. 13)

Steuerung der Zugänglichkeit von Aufgaben: geschlossene, halboffene und offene Aufgaben

Um jedem Kind auf seinem jeweiligen Entwicklungsstand die Bearbeitung von Aufgaben in allen drei Anforderungsbereichen zu ermöglichen, bietet sich die Kombination mit den Aufgabentypen geschlossen, halboffen und offen an.

  • geschlossen“ bedeutet Eindeutigkeit
  • halboffen“ umfasst eine überschaubare Lösungsvielfalt
  • offen“ lässt weitgehende Freiheiten zu

Die drei Aufgabentypen ermöglichen eine Adaption der Aufgabenbearbeitung hinsichtlich der individuellen Lernvoraussetzungen. Hierbei findet neben der horizontalen Entwicklung der Bearbeitungstiefe einer Aufgabe in den Anforderungsbereichen I, II und III auch eine vertikale Steuerung der Zugänglichkeit einer Aufgabe durch die drei Aufgabentypen geschlossen, halboffen und offen statt. Dabei ermöglichen geschlossene Aufgabentypen einen niedrigschwelligen Zugang zum Lerninhalt, während die Öffnung von Aufgabenstellungen als „Startrampe“ für eine Individualisierung der Aufgabenbearbeitung dienen kann.

Kombination der Anforderungsbereiche I, II und III mit den Aufgabentypen geschlossen, halboffen und offen bei der Gestaltung von Aufgaben. Die Steuerung der Zugänglichkeit bietet Lernenden die Chance, auf ihrem aktuellen Entwicklungsstand in die Aufgabenbearbeitung einzusteigen.

Die folgende Darstellung zeigt am Beispiel der Übungsformate Entdeckerpäckchen und Zahlenmauer eine Möglichkeit zur Steuerung der Zugänglichkeit im Anforderungsbereich III mittels der Aufgabentypen geschlossen, halboffen und offen. Als Planungsinstrument für Lehrpersonen zeigen die Beispiele das Potenzial für Individualisierung im Kontext eines gemeinsamen Lerngegenstands.

Aufgabentypen geschlossen, halboffen und offen am Beispiel der Übungsformate „Entdeckerpäckchen“ und „Zahlenmauer“

Durch die Nutzung der Aufgabentypen geschlossen, halboffen und offen bei der Aufgabengestaltung und der damit verbundenen Steuerung der Zugänglichkeit erhalten alle Schülerinnen und Schüler (z.B. lernschnelle / lernlangsame Kinder, Kinder mit Lernschwierigkeiten / mit bildungsrelevanten Benachteiligungen) auf ihrem aktuellen Entwicklungsstand die Chance, neben dem Reproduzieren (AB I) auch Zusammenhänge herzustellen (AB II) sowie zu verallgemeinern und zu reflektieren (AB III).

Öffnung des Unterrichts durch eine lernwirksame Aufgabenkultur

Die Entwicklung einer natürlich differenzierenden Lernkultur mit offenen Aufgabenstellungen kann durch die Kombination der drei Anforderungsbereiche mit den Aufgabentypen und der damit verbundenen Steuerung der Zugänglichkeit schrittweise angebahnt werden.

Es bietet sich an, die Bearbeitung halboffener und offener Aufgaben auf einem weißen Blatt oder mit einer leeren Seite im Mathematikheft zu beginnen. Geeignete typische halboffene und offene Aufgabenstellungen dafür sind:

  • Rechne mit den Ziffern des heutigen Datums.
  • Bilde Plusaufgaben und Minusaufgaben mit den Zahlen 3, 6, 12 und 20.
  • Welche Zahl passt nicht zu den anderen? 15, 20, 23, 25. Begründe.
  • Finde Aufgaben mit dem Ergebnis 100.
  • Mein Bild aus vielen Linien.
  • Mein Aufgabenblatt für die Rechenkartei unserer Klasse.
  • Zahlen unter der Lupe: Meine Lieblingszahl.
  • Beschreibe eine von dir gewählte Größe in einigen Sätzen. Gestalte.
  • Das kann ich schon.

Variation der Aufgabenstellung

Besonders substanzielle Übungsformate (vgl. → Pinnwand, → schriftliche Subtraktion) eignen sich zur Adaption an die Heterogenität von Lerngruppen sowie einzelnen Schülerinnen und Schülern. Dabei bergen sie ein großes Potenzial für (natürliche) Differenzierung und Individualisierung beim gemeinsamen Lernen aller Kinder am gleichen Lerngegenstand.

Aufgaben und Übungsformaten lassen sich variieren durch [5]:

  • Weglassen oder Hinzufügen von Informationen
  • Weglassen oder Hinzufügen von Vorgaben
  • Umkehrung
  • Veränderung
  • Nutzung von Operatoren wie: löse, beschreibe, erkläre, begründe
  • Eigenproduktionen
Möglichkeiten der Variation von Aufgaben am Beispiel des Übungsformats „Zahlenmauer“

Zusammenfassung

Die Kombination der Anforderungsbereich I, II und III mit den Aufgabentypen geschlossen, halboffen und offen bietet großes Potenzial für eine lernwirksame Differenzierung in heterogenen Lerngruppen. Aufgabenimpulse für das individualisierte gemeinsame Lernen aller Kinder am gleichen Lerngegenstand können ein inklusives Lernen fördern (vgl. interkulturelle Bildung, sprachsensibler Unterricht, Inklusion, Werteorientierung) und dazu beitragen, dass alle Kinder sich möglichst optimal – entsprechend ihrer Lernvoraussetzungen – entfalten können.

Die folgenden Übersichten zeigen am Beispiel der Übungsformate Zahlenmauer und Entdeckerpäckchen exemplarisch die Gestaltungsmöglichkeiten von Aufgaben durch:

  • die Nutzung der Anforderungsbereiche I, II und III
  • die Steuerung der Zugänglichkeit durch die Aufgabentypen geschlossen, halboffen und offen
  • eine Variation der Aufgabenstellung
Anforderungsbereiche-und-Aufgabentypen-am-Beispiel-Zahlenmauer


Anforderungsbereiche-und-Aufgabentypen-am-Beispiel-Entdeckerpaeckchen


Quellenangaben

[1] Maras, Rainer; Ametsbichler, Josef; Eckert-Kalthoff, Beate: Handbuch für die Unterrichtsgestaltung in der Grundschule. Auer Verlag 2007. S. 88.

[2] Lehrplan Grundschule. Vorwort. Sachsen 2019. S. VIII.

[3] Lehrplan Grundschule. Mathematik. Sachsen 2019. S. 3.

[4] vgl. Bildungsstandards für das Fach Mathematik Primarbereich (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 15.10.2004, i.d.F. vom 23.06.2022).

[5] vgl. https://pikas-mi.dzlm.de/node/109, abgerufen am 04.07.2020


Simone Arndt und Andreas Grajek

Letzte Aktualisierung: 1. September 2023