„Du brauchst zuerst eine Idee“: Individuelles und selbstorganisiertes Lernen beim Gestaltungstag
Kreative Arbeit beginnt oft mit einer Idee. Doch wie entstehen Ideen und wie lassen sie sich weiterentwickeln? Anhand des Gestaltungstags zeigt dieser Beitrag, wie Schülerinnen und Schüler ihre eigenen Interessen entdecken und Projektideen planen und umsetzen können. So wird deutlich, dass individuelle Lernprozesse nicht nur Neugier und Motivation wecken, sondern auch Raum für persönliche Entfaltung und selbstorganisiertes Lernen schaffen sowie Potenzial für die Umsetzung einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) und auch Lernen durch Engagement bieten.
Zum Gestaltungstag haben die Lernenden die Möglichkeit, ein frei gewähltes Thema zu bearbeiten, so dass ein gestaltetes Produkt entsteht. Dieses wird der Lerngemeinschaft präsentiert. (SMK 2008/2014)
Im Rahmen eines Schulversuchs zur integrativen Begabtenförderung wurde der Gestaltungstag als Form individueller Förderung entwickelt und erprobt. Dabei stand zunächst vor allem Enrichment (d.h. die Förderung besonders begabter, engagierter und interessierter Schülerinnen und Schüler) im Blickpunkt.
Individuelles Fördern in heterogenen Klassen
Die Öffnung des Unterrichts in Form eines Gestaltungstages kommt jedoch nicht nur Kindern mit sehr hoher Begabung zugute, sondern ermöglicht allen Kindern einer Lerngruppe sich mit einem individuell bedeutsamen Thema zu beschäftigen und Inhalte zu erarbeiten, die über den Lehrplan hinausgehen (können). Dadurch wird Raum für individuelles Lernen innerhalb einer heterogenen Klassengemeinschaft gegeben und die intrinsische Lernmotivation der Schülerinnen und Schüler wird gestärkt. Somit werden individuelle Lernbedürfnisse gemäß einer zukunftsorientierten Lernkultur in den Mittelpunkt gerückt (vgl. PESCHEL 2021).
Ein Gestaltungstag ermöglicht es, Interessen zu wecken, Begabungen zu fördern und vor allem der Vielfalt der Schülerinnen und Schüler bewusst und wertschätzend zu begegnen. Aufgabe der Lehrkraft ist es, die individuellen Arbeitsprozesse zu begleiten, zu beraten, zu unterstützen und – falls erforderlich – regulierend einzugreifen, z.B. in Bezug auf Zeitmanagement oder Zusammenarbeit. Dazu vermitteln sie (im Vorfeld) geeignete Methoden und Strategien, mit denen sich die Kinder eigene Themen auswählen und Ziele setzen können. So werden die Eigenverantwortung und das Vertrauen der Lernenden in ihre Fähigkeiten gestärkt. Die Lehrkraft schafft dafür den organisatorischen Rahmen, hält sich aber bewusst zurück, um Raum für selbstgesteuertes und selbstorganisiertes Lernen zu bieten. Sie nimmt aufmerksam die vielfältigen Lernwege der Kinder wahr, um deren Potenziale, Interessen und Bedürfnisse besser kennenzulernen und noch gezielter unterstützen zu können (→ unterrichtsbegleitende pädagogische Diagnostik).
Damit verkörpert ein Gestaltungstag auch eine (neue) Lernkultur, in der Eigenverantwortung und Motivation der Lernenden im Mittelpunkt stehen. Dabei wandelt sich die Lehrerrolle vom Unterrichtenden hin zum impulsgebenden Begleiter individuellen Lernens, der die Potenziale der Schülerinnen und Schüler, deren Entfaltung und das gemeinsame Lernen im Blick hat.
Nicht zuletzt bietet ein Gestaltungstag der Lehrkraft zahlreiche und wunderbare Möglichkeiten, die Lernprozesse der Kinder zu beobachten und das eigene Verständnis von Lehr-Lern-Prozessen zu erweitern.
siehe auch
Organisation eines Gestaltungstags
Entsprechend ihrer Interessen und Fähigkeiten wählen die Schülerinnen und Schüler im Vorfeld ein Thema aus, recherchieren dazu und besorgen (ggf. mit Hilfe der Eltern) Materialien, die sie für ihr Projekt benötigen. Ziel ist es, ein Produkt zu gestalten und der Klassengemeinschaft zu präsentieren.
Mögliche Produkte können sein:
- sprachlich:
eine Geschichte schreiben, Gedichtheft gestalten - handwerklich:
(Holz-)Modell bauen, Papierbasteln, Stoffbearbeitung, (→ vgl. Hummeln) - musisch-künstlerisch:
Tanz / Choreografie erfinden, Lied komponieren, Kunstwerk herstellen - mathematisch:
besondere Zahlen untersuchen (z.B. Fibonaccizahlen), Zahlenrätsel erstellen (und lösen) - (natur-)wissenschaftlich:
Experiment planen und durchführen, Modell oder Schautafel (z.B. zum Sonnensystem), Tiere vorstellen (Plakat, Schaukasten, Modell, Triarama, Lapbook …)
Argumente für den Gestaltungstag
individuelles, selbstbestimmtes Lernen fördern
- Neugier wecken und Interessen vertiefen, Expertenwissen entwickeln
- hohes Motivationspotenzial, intrinsische Motivation stärken
- Zeit für die Auseinandersetzung mit einem Thema
- Selbstwirksamkeit erfahren, Selbstbewusstsein stärken
- Interessen der Kinder in der Klasse kennenlernen
- Vielfalt begegnen, individuelle Unterstützung ermöglichen (vgl. → Inklusion)
fachübergreifendendes und fächerverbindendes Lernen ermöglichen
selbstorganisiertes Lernen ermöglichen (Aufbau von Lernkompetenz)
- Arbeitsprozess planen, durchführen, abschließen
- freie Themenwahl
- selbstgewähltes Produkt gestalten (z.B. Plakat, Schaukasten, Tanz, Text, Werkstück, Experiment)
- Zeiteinteilung
- unterschiedliche Sozialformen
- Material wählen und besorgen
Aufbau von Medienkompetenz
- recherchieren, lesen, umformulieren…
- Bücher, Zeitungen, Zeitschriften, Internet
- Laptop/PC, Kamera, Aufnahmegerät uvm. nutzen
- Bilder auswählen, ausdrucken oder abzeichnen
Kommunikation und Kooperation ermöglichen
- Austausch und gegenseitige Unterstützung
- demokratisches und partizipatives Miteinander
- höflicher Umgang
- angemessene, wertschätzende Rückmeldungen geben
Eltern einbeziehen und Bildungspartnerschaften stärken
Vorbereitung
- Klasse und Eltern rechtzeitig informieren (Tag, Dauer, Organisatorisches)
- der erste Gestaltungstag sollte im Vorfeld genau erklärt und vorgestellt werden (z.B. beim Elternabend oder per Elternbrief)
- Bitte an die Eltern, die Kinder bei der Themenwahl und Materialsuche ggf. zu unterstützen
- das Produkt wird gemeinsam in der Schule hergestellt, Vorbereitungen erfolgen zu Hause (z.B. Notizzettel erstellen, Bilder suchen, Bücher und Zeitschriften sichten usw.)
- Liste für die Kinder aushängen, in die sie ihr Thema schreiben
- Schulleitung bitten, die Lehrperson am Gestaltungstag nur in der Klasse einzusetzen und ggf. weitere Räume zur Verfügung zu stellen
Durchführung
- Klassenzimmer entsprechend vorbereiten (z.B. Tischordnung, benötigte Materialien bereitlegen, Arbeitsplatz und Ablageflächen schaffen, falls möglich ein zweites Zimmer organisieren)
- den Tag gemeinsam in Ruhe mit den üblichen Ritualen starten
- Vorhaben kurz besprechen
- Hinweise zum Arbeiten geben
- Pausenzeiten vereinbaren (individuelle Pausen sind sinnvoll)
Was mache ich, wenn eine Schülerin oder ein Schüler nichts vorbereitet hat?
Das Versäumnis sollte zunächst mit dem Schüler / der Schülerin individuell und mit pädagogischem Geschick besprochen werden. Welche Gründe gibt es dafür? Wie kann die Lehrkraft helfen? Das betreffende Kind sollte nach einer Lösung gefragt werden und eine Idee entwickeln, was es an diesem „besonderen Gestaltungstag, den es nur ganz selten gibt und der so viel Spaß macht“, nun tun möchte.
Die Lehrkraft kann außerdem…
- … ein Thema „in der Hinterhand haben“ (z.B. Tierplakat gestalten)
- … das Kind mit der Recherche zu einem eigenen Thema selbstständig beginnen lassen
- … sie/ihn nach Absprache bei einem Kind der Klasse mitarbeiten lassen
Präsentation
- an den Tagen nach dem Gestaltungstag sollten alle Kinder die Möglichkeit zur Präsentation erhalten
- Fragen können gestellt werden
- Rückmeldungen durch die Mitschülerinnen und Mitschüler sind möglich
- die Produkte sollten unbedingt im Klassenzimmer oder im Schulhaus ausgestellt werden sowie den Eltern beim Elternabend oder bei Elterngesprächen vorgestellt werden
- ggf. können andere Klassen eingeladen werden
Hinweise
Der Gestaltungstag einschließlich der Präsentation sollte grundsätzlich ohne Benotung stattfinden. Gestaltungstage können ab Klassenstufe 1 mehrmals im Jahr – und so oft wie möglich – durchgeführt werden
Das sagen Kinder über den Gestaltungstag
Gestaltungstag ist toll, weil …
- man den Anderen etwas neues beibringt
- man lässt die ganzen Ideen schwirren
- man zeigt, was man kann
- man sich nicht langweilt
- man sucht überall über das Thema
- man erfährt viele Sachen, die man zuvor nicht wusste
- man ist immer gespannt, welches Thema jetzt dran kommt
- man kann da üben, wie man präsentiert
- man denkt sich immer wieder etwas anderes aus
- man gestaltet, wie man will
- man entwickelt die Ideen weiter
- man hat dann keine Schule, sondern man verbessert sich
Gestaltungstag
Am Gestaltungstag arbeitet jeder an seinem Projekt. Man bekommt neue Erfahrungen. Es ist wie Schule ohne Lehrer. Man kann sich interessante Themen auswählen und besichtigen. Jeder arbeitet an seinem eigenen Thema. Man hat den ganzen Tag Zeit. Man lernt Neues dazu, ohne Stress. Der Fantasie kann man freien Lauf lassen. Man kann mit Gruppen und Freunden arbeiten. Man kann sich am Gestaltungstag austauschen. Es ist cool, wenn nicht jeder das Gleiche macht. Es ist schön, dass man Tipps und Lobe anderen Kindern geben kann. Deswegen ist der Gestaltungstag so einzigartig.
Gestaltungstag macht Spaß, weil …
Gestaltungstag ist toll, weil es ganz viele interessante Themen gibt. Man kann, wenn man möchte, mit Freunden zusammenarbeiten. Man kann noch etwas Neues lernen, was man noch nicht weiß. Wir haben den ganzen Tag Zeit. Schule macht dann sehr viel Spaß. Wir können ganz kreativ sein. Es gibt zum Beispiel Themen wie Titanic, der Weltraum und die Erde. Man kann sein eigenen Projekt machen und sich ausdenken, wie man es präsentieren möchte, zum Beispiel als Plakat, Triorama, Schaukasten und Lapbook.
Gestaltungstag ist toll, weil …
… jeder an etwas anderem arbeitet. Es sind alle leise und arbeiten fleißig. Man ist kreativ und man lernt viel über andere Sachen, die man noch nicht kennt. Man ist entspannt und es macht Spaß. Es ist wie als würde die Zeit im Flug vergehen. Es gibt interessante Themen über Tiere, die man noch nicht kennt. Es ist, als wenn man den Lehrer gar nicht sieht, denn man arbeitet die ganze Zeit an seiner Sache.
Anleitung für den Gestaltungstag
(von F., Klasse 3)
Du brauchst zuerst eine Idee.
Dann musst du dir eine Skizze anfertigen. Nun musst du dir die Materialien zusammensuchen. Nun schaust du noch einmal, ob alles da ist, was du brauchst. Nun musst du dir eine Etappenliste anfertigen. So ist es dann einfacher umzusetzen.
Nächster Schritt.
Nun ist es ganz einfach! Du musst nur alles so fertigstellen, wie du es geplant hast.
Letzter Schritt!
Probiere es nun auch aus, wie dir die Präsentation gelingen wird. Mein kleiner Tipp: Mach dir ein paar Stichpunkte für die Präsentation. Sprich auch einmal zum Testen vor einem Kind oder mehreren Kindern. Und die Kinder und der Lehrer freuen sich am Ende über ein Quiz, ob sie gut aufgepasst haben.
Literatur
(1) Sächsisches Staatsministerium für Kultus (Hg.): Integrative Begabtenförderung. Ein Beitrag zur Schul- und Unterrichtsentwicklung an Sachsens Grundschulen. Dresden. 2008/2014. S. 38f.
(2) Peschel, Markus (Hg.): KINDER LERNEN ZUKUNFT. Didaktik der Lernkulturen. Beiträge zur Reform der Grundschule. Bd. 153. Frankfurt am Main. 2021. S.7-27)
Judith Köhler & Andreas Grajek
Letzte Aktualisierung: 12. November 2024